Donnerstag, 18. April 2013

Tunesier werden angeblich in der Schweiz kriminell, weil sie ihren Verwandten die Reise ins "Paradies" zahlen wollen.


Aus 20 Min:

Tunesische Asylsuchende



«Sie stehlen, um Geld nach Hause zu schicken»

  Schriftsteller Amor Ben Hamida will junge Tunesier davon abhalten, in die Schweiz zu kommen. Mit Vorträgen an tunesischen Schulen versucht er, ihnen ihre Illusionen über Europa zu nehmen.

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Asylsuchende aus Tunesien und anderen nordafrikanischen Staaten machen in der Schweiz fast täglich Negativschlagzeilen, weil sie bei Diebstählen und Einbrüchen erwischt werden. Hier eine Schlange von Neuankömmlingen in der Mensa des Asylempfangszentrums Chiasso.
Asylsuchende aus Tunesien und anderen nordafrikanischen Staaten machen in der Schweiz fast täglich Negativschlagzeilen, weil sie bei Diebstählen und Einbrüchen erwischt werden. Hier eine Schlange von Neuankömmlingen in der Mensa des Asylempfangszentrums Chiasso. Allein im ersten Quartal 2013 reichten 640 Tunesier in der Schweiz ein Asylgesuch ein. Nur Nigeria kam mit 682 Gesuchen auf mehr. 11 Prozent der neu angekommenen Asylbewerber in den ersten drei Monaten dieses Jahres waren Tunesier. Hier ein Blick in einen Schlafsaal des Empfangszentrums Chiasso. Ein Asylbewerber aus Tunesien und ein Kollege aus Syrien unterhalten sich vor dem Eingang einer Asylunterkunft in einer unterirdischen Zivilschutzanlage im Berner Hochfeldquartier. Die meisten Tunesier gelangen per Boot nach Europa – hier Aufnahmen der maltesischen Marine von einem Flüchtlingsboot aus Tunesien nahe dem Ziel, der italienischen Insel Lampedusa. Hier ein weiteres überladenes Flüchtlingsboot aus Tunesien. Immer wieder kommt es zu Unfällen, bei denen Boote sinken. Viele Nordafrikaner können nicht schwimmen und ertrinken. Ein Flüchtling küsst nach der Ankunft auf Lampedusa den europäischen Boden, nachdem er von der italienischen Marine vor dem Tod im Meer gerettet worden ist. Über Italien gelangen viele Tunesier in die Schweiz. Für viele ist die Schweiz aber nur Transitland: Ihr engültiges Ziel ist Frankreich, wo die meisten Verwandte haben. Der schweizerisch-tunesische Doppelbürger Amor Ben Hamida sagt, es seien Illusionen und falsche Erwartungen, die so viele Tunesier nach Europa und in die Schweiz treiben. Dass sie in ihrer aussichtslosen Lage in der Schweiz kriminell würden, füge dem Image von Tunesien schweren Schaden zu. Er würde es begrüssen, wenn die Strafen in der Schweiz härter wären. Laut Ben Hamida nutzen viele kriminelle Tunesier den gestürzten Diktator Ben Ali als «Entschuldigung» für ihre Diebstähle: Der habe in der Schweiz Millionen gebunkert, sie hätten das «Recht», sich davon etwas zurückzuholen. «Aufgetaucht. Zum Paradies via Lampedusa»– so heisst Amor Ben Hamidas Roman über Asylsuchende, die aus Tunesien in die Schweiz kommen. Das Werk erscheint in diesen Tagen.

Herr Ben Hamida, was war Ihre Motivation, den Roman über tunesische Asylbewerber zu schreiben, der in diesen Tagen erscheint?
Amor Ben Hamida:
Schweizer Lesern will ich zeigen, welche Hoffnungen und falschen Erwartungen junge Tunesier in die Schweiz treiben. Und tunesischen Lesern will ich klar machen, dass die Schweiz nicht das Paradies ist, das sie erwarten.


Warum kommen so viele Tunesier hierher, obwohl sie keine Chance Asyl haben?

In Tunesien herrscht ein völlig falsches Bild von Europa. Verantwortlich dafür sind vor allem jene Tunesier, die schon in Europa leben. Sie sagen ihren Landsleuten nicht ehrlich, wie schwierig es hier ist. Wenn sie in den Ferien nach Tunesien zurückkehren, protzen sie mit einem Reichtum, den sie in Wirklichkeit gar nicht haben. Dass sie ihr Auto in Europa geleast haben und verschuldet sind, verschweigen sie, um das Gesicht zu wahren. Schon im Alter von 14 Jahren haben viele Tunesier den grossen Traum, nach Europa zu gehen. Dabei nehmen sie sogar das Risiko in Kauf, bei der Überfahrt nach Lampedusa zu ertrinken.

Aus welchen Schichten stammen jene Tunesier, die in die Schweiz kommen?

Die meisten stammen aus der Unterschicht, haben wenig Schulbildung, schlechte Sprachkenntnisse und waren in Tunesien arbeitslos. Ich habe in der Schweiz aber auch Asylsuchende getroffen, die in Tunesien einen Job hatten, etwa als Lehrer. Die meisten wollen aber nicht in der Schweiz bleiben, ihr eigentliches Ziel ist Frankreich. Dort hat fast jeder Tunesier Verwandte.

Können sich Personen aus der Unterschicht die Überfahrt nach Europa überhaupt leisten?

Mit dem Boot nach Europa zu gelangen, kostet etwa 2000 bis 3000 Dinar, das sind 1000 bis 1500 Franken. Das entspricht etwa vier guten tunesischen Monatslöhnen. Um dieses Geld aufzubringen, verschulden sich die meisten, oft nicht nur sie selber, sondern auch ihre Familien. Umso grösser ist dann der Druck für sie, aus Europa Geld zu schicken.

Fast täglich tauchen tunesische Asylbewerber in Schweizer Polizeimeldungen auf, weil sie Ladendiebstähle begehen oder Autos knacken.

Ja, diese Kriminalität ist ein grosses Ärgernis. Sie fügt Tunesien einen enormen Image-Schaden zu. Diese Vorfälle rauben den Schweizern auch die Lust, ihre Ferien in Tunesien zu verbringen. Mit der Folge, dass sich die tunesische Tourismusbranche weiter in der Krise befindet – was wiederum noch mehr Wirtschaftsflüchtlinge produziert.

Kommen die Tunesier mit dem Ziel in die Schweiz, kriminell zu werden?

Nein, sie wollen Arbeit, sie wollen Geld verdienen. Wenn sie ein Jahr hier herumgehängt sind und nie arbeiten konnten, geraten manche auf die schiefe Bahn. Viele denken sich auch: Diktator Ben Ali hat in der Schweiz Millionen gebunkert, davon hole ich mir jetzt etwas zurück. Das Geld, das sie stehlen, brauchen einige, um sich Nike-Turnschuhe, Levi's-Jeans und andere Statussymbole zu kaufen. Doch viele schicken es auch nach Hause. Sie wollen den Anschein erwecken, dass sie es in Europa geschafft haben.

Ist die Hemmschwelle, kriminell zu werden, bei Ihren Landsleuten tief?

Sie ist jedenfalls hier viel tiefer als in Tunesien. Dort haben junge Männer Väter und Onkel, die einschreiten, wenn sie kriminell werden. Diese soziale Kontrolle fehlt hier völlig. Hinzu kommt der Alkohol. Damit haben wir in der arabischen Welt Mühe: Entweder, man trinkt gar nicht oder man trinkt bis zur Besinnungslosigkeit. Alkohol – in Kombination mit Frust – spielt oft eine Rolle, wenn tunesische Asylbewerber Straftaten begehen.

Welche Rolle spielen die geringen Strafen in der Schweiz?

Eine grosse. In Tunesien sind die Strafen viel härter als hier. Eine oder zwei Nächte in einem Schweizer Gefängnis können einen tunesischen Asylbewerber nicht abschrecken. Die Strafen in der Schweiz müssten härter sein.

Was müsste man tun, um Tunesier von der aussichtslosen Reise in die Schweiz abzuhalten?

Es braucht mehr Hilfe vor Ort, damit es Tunesiens Wirtschaft endlich besser geht. Deshalb lasse ich bewusst mein Buch in Tunesien drucken. Und Schweizer müssten wieder mehr in Tunesien Ferien machen. Zudem müssen die Tunesier endlich lernen, dass Europa nicht das Paradies ist, für das sie es halten. Dafür sorge ich, indem ich in Schulen Vorträge halte.

Was erzählen Sie den tunesischen Schülern?

Gemeinsam mit einem Kollegen informiere ich sie über die tödlichen Gefahren der Bootsüberfahrt. Und ich sage ihnen deutlich, dass Arbeitslosigkeit gemäss Schweizer Recht kein Asylgrund ist. Und dass die Schweizer nur so viel Geld haben, weil sie «chrampfen». Tunesier, die einen Job in der Schweiz haben, sind überrascht, wie hart man hier arbeitet. In Tunesien leistet man halt schon weniger als in der Schweiz – dafür verdient man auch zehnmal weniger.

Glauben Sie, dass diese Vorträge bei den Jungen etwas bewirken?

Ich weiss es nicht – sobald einer in seinem Umfeld jemanden kennt, der aus Europa 500 Euro an die Familie schickt, glaubt er, dass er es auch schaffen kann. Doch auch in der tunesischen Gesellschaft wächst der Unmut über junge Menschen, die in Europa schmarotzen, statt sich am Wiederaufbau ihres Landes zu beteiligen.

Fazit: Es darf nicht sein, dass die milden Strafen Kriminelle anlocken. Tunesien müsste vor allem vor Ort geholfen werden. Dieses Interview macht  uns zudem  bewusst, dass der Information eine grosse Bedeutung zu kommt.

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