Freitag, 30. Dezember 2011

Gedanken, die überzeugen


Alle müssen etwas zurückstecken!



(Ein Auszug aus einem Interview)



Die Philosophin Katja Gentinetta misstraut den Forderungen nach einem Wertewandel als Antwort auf die Wirtschaftskrise. Stattdessen sollten wir unser bestehendes System «beharrlich verbessern».
«Verstehen hat offenbar einen geringeren Stellenwert als Berechnen»: Katja Gentinetta über die Mentalität in der Finanzbranche.

Bild: Sophie Stieger

Katja Gentinetta

Die 43-jährige Walliserin ist promovierte Philosophin. 2006 wurde sie stellvertretende Leiterin von Avenir Suisse. Sie verfasste Studien über Sozialpolitik und schrieb mit Georg Kohler ein Buch über die Souveränität der Schweiz. 2011 machte sie sich selbstständig. Sie moderiert unter anderem die SF-Sendung «Sternstunde Philosophie».

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Christine Lagarde, die an der Spitze des Weltwährungsfonds IWF steht, sagt, sie habe das Gefühl, 2008 wäre anders gewesen, hätte es mehr Frauen in der Finanzbranche gegeben. Ist die Krise eine Chance, dass sich weibliche Werte durchsetzen können?




Ich bin sehr skeptisch gegenüber einer geschlechterspezifischen Zuschreibung von Werten, selbst wenn das Gros der Männer und Frauen unterschiedliche Präferenzen hat. Gemeinhin wird unterstellt, Frauen scheuten eher das Risiko und würden die Dinge ganzheitlich betrachten. Es gibt aber Studien über Frauen in Kaderpositionen, die zeigen, dass Frauen nicht weniger Risiken eingehen. Nachhaltigkeit, Ganzheitlichkeit: Ich würde diese Werte nicht primär den Frauen zuordnen.


Sondern?




Eher einem Trend. Bisher haben sich Frauen, wenn auch in der deutlichen Minderzahl, unter vergleichbaren Bedingungen - mit denselben Anreizen und Aussichten auf Gewinn etwa - nicht völlig anders verhalten. Menschen sind vor allem anpassungsfähig. Ich halte es für gewagt, hier eine komplett andere Psychologie zu erwarten. Daher ist es so wichtig, die Anreize zu korrigieren.


Lagarde, die in einer ausgesprochenen Männerwelt Karriere gemacht hat, kann sich doch wohl kaum in ihren Gefühlen täuschen.


Dieses Gefühl kenne ich auch. Aber woran soll ich es festmachen? Gegen biologische Begründungen wehre ich mich. Sicher wirken traditionelle Rollen, Vorbilder und Umgebungen, die uns - wie auch Männer - geprägt haben.


Sie glauben also nicht an ein weibliches Wertesystem?


Nicht an ein gegebenes, unveränderbares.


Ich verstehe Ihre Zurückhaltung nicht.





Ich nehme für mich als Frau nicht in Anspruch, der bessere Mensch zu sein. Deshalb wehre ich mich gegen Pauschalisierungen dieser Art. Wenn, dann kann man die Differenzen an den Geschlechterrollen festmachen und nicht an der Biologie.


Aber die Biologie ist es, die Frauen zu einem anderen Verhalten bringt. Sie müssen sich permanent auf zwei Ebenen behaupten: Kinder und Karriere. Männer können sich auf ihre Karriere konzentrieren und auf den Konkurrenzkampf mit anderen Männern.


Das ist in der Tat immer noch der Fall, gerade in der Schweiz. Dass wir in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie derart hinterherhinken, ist schlichtweg nicht nachvollziehbar. Dabei könnten wir einen guten Teil des Mangels an Fachkräften durch gut qualifizierte Frauen kompensieren.


Wie können wir die Spielregeln verändern?


Im Prinzip müsste der Anteil der Frauen mindestens an die 30-Prozent-Grenze kommen. Dann hätten wir ein durchmischtes Bild auch in den obersten Etagen. Also mehr Vielfalt - oder Diversity, wie es so unverfänglich heisst. Dann wäre es vermutlich möglich, aus dem Willen zur Veränderung heraus und mit der nötigen Macht, an den Strukturen und Spielregeln etwas zu ändern.


Sind Sie für das Quotensystem?




Als Liberale darf ich das ja nicht.


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Sie sind erstaunlich pragmatisch. Das klingt, als würden Sie noch immer für den bürgerlichen Thinktank Avenir Suisse agieren.





Ich bin pragmatisch. Ich ziehe den Weg der kleinen Schritte vor. Die Alternative hiesse, den gordischen Knoten zu durchschneiden. Das wäre die Revolution, und die frisst, wie wir wissen, ihre Kinder.


Wie kommt die Philosophin zu dieser vorsichtigen Haltung? Von den Philosophen erwartet man doch normalerweise den grossen Wurf, das Undenkbare.


Philosophie liebt die Weisheit, nicht die Fantasie. Die drei zentralen Instrumente der Philosophie sind der Begriff, das Argument, die Erfahrung. Die Erfahrung ist zentral: Was wissen wir? Was ist passiert? Der Begriff versucht, ein Problem auf den Punkt zu bringen. Das Argument treibt die Analyse weiter und sucht nach Lösungen. Die Utopie hingegen gehört dem Reich der Fantasie an, dem Wunsch. Platons «Staat» war der Entwurf eines Idealstaats und als solcher eine der ersten grossen Utopien und deshalb nicht zufällig in zahlreichen Teilen totalitär und demokratiefeindlich. Für mich wäre es keine schöne Vorstellung, in einem solchen Staat leben zu müssen.


Der Philosoph Peter Sloterdijk sagt, dass die Philosophie eine universale Beratungskompetenz hat. Worin liegt diese Kompetenz?


Sloterdijk ist ein glänzender Ironiker. Dennoch: Die Philosophie geht analytisch und, mehr als andere Disziplinen, grundsätzlich und umfassend an die Sache. Jede Disziplin hat ihre eigenen Erkenntnisziele. Die Ökonomie - wobei man zwischen verschiedenen Richtungen, etwa empirischer Ökonomie und Ordnungspolitik, unterscheiden müsste - sucht Zusammenhänge in Angebot und Nachfrage, Regulierung und Nichtregulierung, Kosten und Nutzen. Die Lösungen werden durch diese Kategorien bestimmt. Die Politik nimmt einen anderen Standpunkt ein. Sie versucht Mehrheiten zu schaffen, Ausgleich zu erzielen. Die Philosophie versucht, das Problem als Ganzes zu erfassen.


Auch Ökonomen denken dann und wann nach.


Im Gegensatz zur Ökonomie aber hat die Philosophie ein viel grösseres Vertrauen in die schlichte Reflexion. Auch die Philosophie kennt die Empirie. Ich werde aber skeptisch, wenn die Empirie zu weit getrieben wird. Nehmen Sie die Verhaltensökonomie. Da wird ein kleiner Ausschnitt möglichen Verhaltens empirisch bewiesen, der letztlich aber unter sehr spezifischen Bedingungen, unter Ausschluss zahlreicher Varianten und nicht nachweisbarer Einflüsse stattgefunden hat. Dabei gibt es so viele Spielarten und Möglichkeiten im Leben. Von einem kleinen Ausschnitt auf das Ganze zu schliessen, ist wagemutig.


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Wenn Sie die Agenda 2012 hierzulande bestimmen könnten: Was stünde ganz zuoberst?


Die Sozialversicherungen, allen voran die Altersvorsorge. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer beträgt heute für Männer rund 19, für Frauen rund 23 Jahre; das sind über sieben Jahre mehr als bei Einführung der AHV. Überdies haben wir auch in der zweiten Säule Tendenzen in Richtung Umlageverfahren, was eigentlich gerade nicht der Zweck dieser Vorsorgeeinrichtung ist. Selbst wenn wir im Vergleich zum Ausland noch gut dastehen: Wir müssen ja nicht zwingend so lange zuwarten, bis wir auch hier hoffnungslos verschuldet sind oder Renten plötzlich drastisch gekürzt werden müssen. Seit 2004 hatten wir keine abstimmungsreife Vorlage mehr. Ich habe schon die Hoffnung, dass die Politik in der neuen Legislatur hier ein klares Zeichen setzt und eine AHV-Revision vorlegt, die eine Anpassung des Rentenalters an die Lebenserwartung vorsieht, kombiniert mit einer selbstverantwortlichen Flexibilisierung und entsprechenden Anpassungen in der zweiten Säule. Und wenn es nicht anders geht, einer Schuldenbremse für die AHV. (Tages-Anzeiger)


Kommentar: Die Gedanken überzeugen, weil die Philosophin davon ausgeht, dass alle zur Verbesserung der Probleme beitragen müssen und einseitige Rezepte fragwürdig sind. Wir kommen nur weiter in kleinen Schritten!

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