Dienstag, 26. Oktober 2010

Die Schattenseite des Medienrummels


Das grosse Medieninteresse an ihren Geschichten löst bei den geretteten Bergarbeitern in Chile grossen Unmut aus. Einige wünschen sich sogar zurück ins Innere der Mine.




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Der sonst «starke» Mario Sepulveda (links) klagte an einem Galadinner mit dem chilenischen Unternehmer Leonardo Farkas (Mitte), wie schwer ihm «dieses neue Leben» falle. «Wenn ich an die schönen Augenblicke zurückdenke, die wir in der Mine erlebt haben, und an die Menschen, die ich lieben lernte, würde ich lieber wieder dort unten sein.»


Bei mehreren Kumpeln ist genau das aufgetreten, wovor Psychologen gewarnt hatten und das Rettungsteam vermeiden wollte: Das enorme öffentliche Interesse wird zur immensen Belastung. Die 33 Männer werden derzeit von der Presse dermassen belästigt, dass sie mit den Nerven völlig am Ende sind. Der Grundtenor: «Ich bin nichts weiter als ein Bergarbeiter», so zum Beispiel Mario Sepúlveda gegenüber einem chilenischen Fernsehsender. «Diese ganze Berühmtheitsgeschichte ist nichts für mich.»
Auch Mario Gómez, der älteste der Verschütteten, sehnt sich nach Ruhe. Er sei die «Belästigungen» durch die heimische und die ausländische Presse und offiziellen Auftritte bereits leid. Die meisten Kumpel sind von dem Medienwirbel überfordert – und manche sehnen sich sogar zurück in die Tiefe. «Manchmal denke ich, dass es mir im Inneren der Mine besser gehen würde», sagte vor wenigen Tagen der 56-jährige Omar Reygadas.
Die Männer hatten in den letzten 10 Tagen mit Dingen zu tun, die sie überhaupt nicht kennen: Sie müssen die Entschädigungen für Interviews und Fototermine sowie Gagen für TV-Auftritte und Werbespots verhandeln. Zudem müssen sie über diverse nationale und internationale Einladungen entscheiden: Mal ein Gala-Dinner hier, mal ein Familientreffen dort.
Verwandte spriessen aus dem Boden
Die Konsequenzen dieses Martyriums nach dem Martyrium sind bei einigen Bergmännern bereits sichtbar: Viele leiden an Depressionen, an Schlaflosigkeit und Panikattacken. Sie greifen zu Medikamenten oder zu Alkohol. Auch bei Mario Sepulveda, der unter Tage wegen seiner Videos und seines starken Charakters aufgefallen war, sind erste Anzeichen von Depression aufgetreten. «Wenn ich an die schönen Augenblicke zurückdenke, die wir (dort unten) erlebt haben, und an die Menschen, die ich lieben lernte, würde ich lieber wieder dort (in der Mine) sein», sagte er im Fernsehen.
Die grössten Feinde, die die Kumpel haben, sind allerdings ihre geldgierigen Verwandten. Wie durch ein Wunder tauchen nun Cousins dritten Grades und Grosstanten aus einem entfernten Stamm der Familie auf. Die «engen Angehörigen» drängen zudem die Männer ins Rampenlicht, doch viele Mineure sind Einzelgänger, die mit dem Rummel nicht fertigwerden. In vielen Familien, die oft von Armut geprägt sind, sind erste Konflikte entbrannt.
Darunter leidet vor allem der 50-jährige Yonni Barrios, der wegen seiner Affäre mit einer anderen Frau in die Medien geraten war: Nachdem er am Donnerstagabend für eine Gage von umgerechnet 10 000 Franken an einem Gala-Dinner mit dem chilenischen Unternehmer Leonardo Farkas teilnahm, zog er sich wieder zurück – ohne sich den Medien zu stellen, die ihn für ein Interview vor die Kameras zerren wollten. Enttäuscht über seine Verschlossenheit, meinte seine Frau etwas genervt: «Er hockt am liebsten neben dem Radio und hört Rancheras.» Leider habe sich das jetzt nicht geändert – und Yonni lasse so «alle Chancen auf Geld vorbeirauschen».
Sie müssen geschont werden
Die Männer müssten nun geschont werden, warnen die Psychologen inzwischen. Sie seien sehr «schwach» und müssten etwas kürzertreten, sich Zeit lassen und Ruhe bewahren. «Das Abendessen mit Farkas fand ich wunderschön, aber es hätte ebenso gut eine Woche später stattfinden können, wenn die Männer in einem besseren Zustand gewesen wären», sagte Alberto Iturra, der die 33 Bergleute während ihrer Gefangenschaft in der Mine betreut hatte, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. Die Geretteten sollten den vielen Angeboten und Ansprüchen nicht ausweichen, meint Iturra, aber sie «höflich und freundlich» zurückweisen, wenn ihnen etwas zu viel werde.
(kle)

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