Seit Jahren ist der Literaturkritiker Reich-Ranicki nicht mehr im Rampenlicht. Dank einer Provokation schafft er es wieder, von sich reden zu machen. Nicht nur das: Er bekommt sogar einen Sendeplatz.
Ich zitiere spiegel-online:
TV- KRITIKER REICH- RANICKI
Blödel- TV attackiert, dafür Sendeplatz erobert
Elegant orchestriert: Marcel Reich-Ranicki nennt die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises "Blödsinn", lehnt seine Auszeichnung ab - und beschert der peinlich-paritätischen ZDF-Gala unverhoffte Aufmerksamkeit. Nun bekommt der Literaturpapst einen neuen Sendeplatz - als TV-Kritiker.
Die deutsche Fernsehkritik hat seit gestern ein neues, wenn auch nicht mehr ganz unverbrauchtes Gesicht: das von Marcel Reich-Ranicki. Der 88-Jährige, der bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises in Köln für sein Lebenswerk ausgezeichnet werden sollte, bedankte sich für die Ehrung mit einer medialen Generalabrechung.
"Blödsinn" sei alles, was an diesem Abend im Coloneum noch zu sehen sei. "Ich gehöre nicht in diese Reihe", sagte Reich-Ranicki, der mit dem von ihm geleiteten "Literarischen Quartett" einst lustig und listig die Literaturkritik in den deutschen Unterhaltungsbetrieb eingegliedert hat.
Der alte Herr weiß eben immer noch, wie man Pointen setzt – und die Erregungsökonomie des Entertainment-Apparats befeuert.
Bei der Aufzeichnung der Gala, die am Sonntagabend als Zusammenschnitt im ZDF zu sehen ist (20.15 Uhr), hatte man die eigentlich als Finale geplante Übergabe des Lebenspreises spontan in die Mitte vorgezogen. In der Zusammenfassung, so ist es zumindest angedacht, wird sie dann wieder ans Ende gebastelt. Kann man sich ein schöneres Bild für die inszenierte Realität des Fernsehens vorstellen?
Angeblich hatte Reich-Ranicki während der Veranstaltung schon häufiger bedrohlich auf die Uhr geschaut. Darbietungen von Atze Schröder, der momentan mit der Nazi-Klamotte "U-900" im Kino zu sehen ist und gestern mit Schamhaarperücke und schicker Kapitänsuniform auf der Bühne rumulkte, sowie andere Privatfernsehhumoristen zerrten offensichtlich schwer an den Nerven des Vorzeigeintellektuellen und Holocaust-Überlebenden.
Also kündigte Moderator Thomas Gottschalk nach gut einer Stunde geschmeidig an, dass man eben schon jetzt zum Höhepunkt des Abends käme – und der wurde dem Publikum von Reich-Ranicki dann auch prompt serviert.
Erst wetterte er, dann ließ er pikiert den Preis auf der Bühne stehen:
Ein Auftritt, so ernsthaft erregt wie elegant orchestriert. Mag der Ekel des Literaturkritikers vor dem Massenmedium Fernsehen auch noch so groß sein, die Grundregeln guter Unterhaltung beherrscht er wie kein Zweiter. Und er spielt sie zu seinen Bedingungen aus.
Nach der Aufzeichnung sagte Thomas Gottschalk :
"Ich hatte überhaupt keine Ahnung. Mir wurde nur gesagt, dass er sich ärgert. So haben wir seine Ehrung vorgezogen, damit er nicht noch geht."
Mediale Parallelwelt
Gerechnet hat sich der Adrenalinschub in dieser ansonsten vollkommen beliebigen Preisabwurfparade nun sowohl für Reich-Ranicki als auch für Gottschalk selbst.
Wie die ZDF-Verantwortlichen noch in der Nacht mitteilen ließen, werde man an einem Format arbeiten, in dem der Bücherpapst und der Quotenzampano gemeinsam übers Medium reflektieren werden. Aber mal ganz ehrlich, welche Inhalte könnten da ausgetauscht werden?
Das deutsche Fernsehen ist nun mal eine unübersichtliche und hoch komplexe Angelegenheit. Schwer vorstellbar, dass Reich-Ranicki neben dem Bücherstudium wirklich Zeit und Muße findet in diese mediale Parallelwelt sichtend einzutauchen. Aber eben das ist unabdingbar, wenn er ein kompetentes Urteil abgeben will.
Wie widersprüchlich das Fernsehen ist, zeigt schon die Liste der Preisträger der gestrigen Veranstaltung. Initiiert von den vier großen Sendern ARD, ZDF, RTL und Sat.1 werden die Auszeichnungen meist einigermaßen paritätisch verteilt. Es geht um Diplomatie, Mut ist von der Jury nicht gefragt.
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Massenberieselung und Experimentierfeld
Deutsches Fernsehen ist eben immer zweierlei: Massenberieselung und Experimentierfeld – was sich auch an zwei Produktionen zeigt, in denen es um die jüngere deutsche Geschichte geht: Während ausgerechnet die Märtyrer-Maschine Veronica Ferres für den Mauer-Schmonzes "Die Frau vom Checkpoint Charlie" als beste Schauspielerin gefeiert wurde, erhielt die grausam doppelbödige Stasi-Liebesgeschichte "12 heißt: Ich liebe dich" – dessen sensationelle Hauptdarstellerin Claudia Michelsen leer ausging – immerhin den wichtigen Regiepreis. (Die restlichen Preisträger dürfen wir Ihnen leider erst nach der Show-Ausstrahlung mitteilen, um dem ZDF nicht die Überraschung zu verderben).
Man kann das Fernsehen also, das zeigte diese Fernsehpreis-Gala einmal mehr, hassen und lieben. Dass Marcel Reich-Ranicki sich für Ersteres entschieden hat, ist vollkommen in Ordnung – zumal er diesen Hass bei aller Härte mit einer gewissen heiteren Dialektik vorzutragen versteht. Denn so aufrecht er sich vom Fernsehen abgewandt hat, desto zärtlicher lässt er sich von dessen Exponenten nun wieder umarmen.
Den Plexiglas-Obelisk für sein Lebenswerk hat der Griesgram dann jedenfalls doch noch irgendwie mit nach Hause genommen – und die angedachte Sendung mit Gottschalk dürfte ganz unabhängig von ihrer Qualität ein echter Quotenhit werden.
Wer weiß, vielleicht steht Marcel Reich-Ranicki nächstes Jahr schon wieder auf der Bühne, um sich gemeinsam mit Thomas Gottschalk den Preis für die beste Unterhaltungssendung abzuholen.
Kommentar: Marcel Reich-Ranicki kennt bestimmt seinen Marktwert. Er weiss, dass er immer noch fähig ist, Einschaltquoten zu garantieren. Deshalb musste er bei der Verleihung gar nicht so hoch pokern. Der schlaue Fuchs schaffte es einmal mehr, die Gunst der Stunde zu nutzen und verstand es, sich geschickt in Szene zu setzen. Er bekommt jetzt wieder TV Präsenz - gleichsam als als Belohnung für seinen Eklat. Aus meiner Sicht kann dem Literaturkritiker nicht krankhafte Mediengeilheit zugeschrieben werden. Doch bedauerte er es bestimmt, dass er der breite Oeffentlichkeit in letzter Zeit nicht mehr seine messerscharfen Urteile vermitteln durfte. Reich-Ranicki hat bestimmt ein ausgesprochens Sendungsbewusstsein. Er kennt seine analytische Fähigkeiten und möchte seine Gedanken auch verbreiten können. Ohne Kamera - und Mikrofonpräsenz ist dies bekanntlich viel mühsamer.