Medienwandel: 12 Sünden im digitalen Zeitalter
Sünde 1: Gratiskultur
“Was nichts kostet, ist nichts wert”, pflegte Oma zu sagen.
Verleger
sind sich heute weitgehend einig; teuer produzierte Inhalte kostenlose
ins Netz zu stellen, war einer der grössten Fehler zu Beginn der
Internet-Ära. Mit dieser Haltung wurde nicht nur ein neues
Geschäftsmodell brachliegen gelassen, schlimmer noch; es wurde eine
Gratiskultur erzeugt, aus deren Fängen man sich heute kaum mehr zu lösen
weiss. Diese Gratiskultur schlug sich auch im Selbstverständnis einer
jeden Redaktion nieder; Online ist (vermeintlich) weniger wert als das
traditionelle Kerngeschäft — Print, Radio, TV. Das spüren die
Journalistinnen und Journalisten, aber auch die Mediennutzer, die statt
Premium-Qualität oft Zweitverwertung im Web vorgesetzt bekommen.
Man
sagt, Journalismus spiele eine elementare Rolle für die Bürger einer
Demokratie. Aber werden genügend Bürger bereit sein, für Recherchen Geld
zu bezahlen? Im Marketing sagt man: “Price is only ever an issue in the
absence of quality”. Der Preis ist kein Thema für den Kunden, sofern
der Wert stimmt. Daran sollte sich auch der Journalismus messen. Wenn
journalistische Arbeit einen Wert schafft, dann hat diese auch einen
Preis. Mit Werbung allein ist sie auf Dauer nicht finanzierbar.
Sünde 2: Macht mit Wissen gleichsetzen
Die Geschäftsleitung will, dass wir die Farben in der App anpassen. Das Rot gefällt ihnen nicht.
Die
Geschäftsleitung ist verantwortlich für die Strategie. Daraus leiten
deren Mitglieder oftmals ab, dass sie alle Entscheidungen selber treffen
müssen. Dieser Reflex hat einen Makel: Macht und Wissen kommen nicht
automatisch Hand in Hand.
Ob
rot oder grün die bessere Farbe für einen Button auf der Webseite oder
App ist, das muss in der Kompetenz der Designer liegen. Schliesslich
sind sie die Experten für diese Fragestellung und werden dafür bezahlt.
Sie setzen sich mit der Frage auseinander, wie Farben auf die User
wirken und welche zu Interaktion einladen. Zudem testen sie ihre
Annahmen direkt mit Nutzern und passen ihre Entwürfe durch das Feedback
an. Bei allem Respekt; des Finanzchefs Vorliebe für erdige Farbtöne
sollten für die Produktgestaltung keine Rolle spielen.
Entscheidungen
müssen in einem Unternehmen dort angesiedelt werden, wo die
Fachkompetenz am grössten ist. Das Management hingegen hat die Aufgabe,
Ziele vorzugeben und dann Verantwortung (inkl. Vertrauen) an die
Experten-Teams abzugeben, damit diese die optimalen Lösungen entwickeln,
um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Diese Haltung entspricht nicht
den traditionellen Mustern. Aber die junge Generation von Journalisten,
Produktentwicklern und Marketingfachleuten will Freiheiten, Kompetenzen
und Handlungsspielräume. Zurecht.
Sünde 3: Sparen ohne zu investieren
Kosten senken macht alle munter.
Kurzfristig
mag diese Aussage stimmen. Langfristig führt sie ins Verderben. Den
klassischen Verlagen brechen zwei grundlegende Einnahmequellen weg: Die
Abonnenten und die Werbekunden. Erstere, weil sich die Mediennutzung je
länger je stärker in den digitalen Raum verschiebt, wo nach wie vor kein
oder deutlich weniger Geld mit Journalimus verdient wird. Zweitere,
weil Werbung bei Facebook und Google effektiver ist, um Zielgruppen
präzise und günstig zu erreichen. Die Verlagsgewinne im Kerngeschäft
Journalismus schrumpfen darum bedrohlich schnell. Verleger lassen sich
mit den Worten zitieren: “Wenn das so weitergeht, ist hier in zwei bis
drei Jahren Lichterlöschen.”
Die
vermeintlich richtige Konsequenz ist zu sparen. Verlage legen ihr
Geschäft zusammen, Redaktionen werden zusammengestrichen, Titel
verschwinden vom Markt, Supportbereiche werden bis zum Burn-Out
verkleinert. Was dabei gerne vergessen wird; Sparen verlangsamt einzig
das Sterben. Wer aber eine Wette auf die Zukunft des Journalismus
eingehen will, muss gezielt in neue Bereiche investieren. Das kann eine
Videoabteilung, ein Rechercheteam, ein neues Produkt-Segment (Podcast,
Newsletter, Konferenzen,…) oder eine Offensive im Bereich Data &
Technology sein. Lieber ein schlechter Plan, als gar keiner.
Entscheidend ist; wer neue Geldquellen erschliessen will, muss neue Wege
gehen. Und eine Expeditionsausrüstung hat ihren Preis.
Sünde 4: Planen statt machen
Try and learn
Planung
ist wichtig. Es ist die Phase eines jeden neuen Vorhabens, in der
Experten ihre Erfahrung auf den Tisch legen, debattieren und mögliche
Lösungen entwickeln. Allzu gerne werden dabei Monate, manchmal sogar
Jahre investiert, bevor es an die Umsetzung geht. Kommt das geschaffene
Angebot dann nicht wie erhofft bei den Kunden an, hat man viel Zeit und
Geld verbrannt.
Der
agile Ansatz ist wesentlich pragmatischer und zielstrebiger. In Kurz:
Eine Hypothese aufstellen, einen Prototypen entwicklen, diesen möglichst
rasch am Markt testen, Feedback bekommen, daraus lernen und so das
Produkt weiterentwickeln. Das ist günstiger und schneller.
Ein Beispiel aus der Praxis (Dieser Dialog hat genau so stattgefunden):
“Wie wärs, wenn wir den neuen Studenten am ersten Uni-Tag Hilfestellungen, Tipps und Vergünstigungen via WhatsApp anbieten?” - “Ach das ist doch viel zu aufwändig. Das werden sie bestimmt nicht nutzen.” Minutenlang wurden persönliche Meinungen und Bedenken vorgetragen.
“Wie wärs, wenn wir den neuen Studenten am ersten Uni-Tag Hilfestellungen, Tipps und Vergünstigungen via WhatsApp anbieten?” - “Ach das ist doch viel zu aufwändig. Das werden sie bestimmt nicht nutzen.” Minutenlang wurden persönliche Meinungen und Bedenken vorgetragen.
Keiner
am Tisch konnte seine Meinung mit Zahlen und konkreten Erfahrungswerten
untermauern. Keiner am Tisch wusste, ob WhatsApp für Studenten
funktioniert. Ausser man probiert es.
Darum:
Weniger planen, schneller machen. Die Antwort liefert nicht der
zwanzigste Workshop, sondern der Markt, das heisst; die Kunden.
Sünde 5: Produzieren ohne zu verkaufen
Was ist ein guter Verkäufer? Einer, der den Papst davon überzeugt, sich ein Doppelbett zu kaufen.
Gute
Journalisten sind neugierig. Sie wollen Dinge verstehen, hinterfragen
das Bestehende, versuchen durch Recherche der Wahrheit so nahe wie
möglich zu kommen. Sie können schreiben, filmen, erzählen. Wäre ihr
grösstes Talent, Kühlschränke an den Mann und die Frau zu bringen, wären
sie vermutlich Verkäufer geworden.
Verkaufen
ist aber zur unverzichtbaren Disziplin im Journalismus geworden. News
und Geschichten werden immer seltener aktiv gesucht. Inhalte müssen
dorthin gebracht werden, wo die User sind. Push statt Pull. So ist der
Smartphone-Sperrbildschirm längst zur umkämpften Zone geworden, wo
Pushmeldungen um die Aufmerksamkeit potentieller Leser buhlen. Damit hat
sich auch der Job des Journalisten verändert: Gefragt sind Titel und
Bilder, welche bei den Rezipieten sofort die Aufmerksamkeit wecken und
Interesse auslösen. Gefragt sind Pushnachrichten und Postings in
Sozialen Netzwerken. Gefragt sind Communities, welche die Geschichten
teilen und so weiterverbreiten. Gefragt sind immer häufiger bezahlte
Werbung in Sozialen Medien oder bei Google. Gefragt ist eine ganze
Menge, was nicht zum erlernten journalistischen Handwerk gehört, auf dem
Weg zum Leser, Zuschauer oder Zuhörer aber erfolgsentscheidend ist.
Gesucht: “Inhaltsverkäufer/in 100%”.
Gesucht: “Inhaltsverkäufer/in 100%”.
Sünde 6: Egozentriert statt nutzerzentriert
Niemand kennt unser Business besser als wir selbst.
Diese
Aussage mag stimmen, aber was interessiert das die Kunden. Sie allein
entscheiden, ob ein Medium die richtigen Angebote hat und ob sie bereit
sind, Geld dafür zu bezahlen. Die traditionelle Sichtweise aus dem
Unternehmen heraus birgt stets das Risiko, an den Bedürfnissen der
Menschen vorbei zu handeln.
Was
nützen einem Hotelier 30 Jahre Branchenerfahrung, wenn seine Kunden
ihre Übernachtungen plötzlich bei Airbnb buchen? Was nützt es dem
traditionsreichen Fotohersteller, dass er die Produktion von
Systemkameras besser versteht, als die Technikkonzerne im Silicon
Valley, wenn seine Kunden lieber mit einem Smartphone fotografieren?
Erfahrung
wird dann zur Waffe, wenn sie dazu eingesetzt wird, Produkte laufend
den sich verändernden Kundenbedürfnissen anzupassen. In der agilen und
nutzerzentrieren Produktentwicklung spielt der Kunde die entscheidende
Rolle. Neue Ideen werden darum so rasch wie möglich mit Nutzergruppen
getestet. Schliesslich muss der Wurm dem Fisch schmecken, nicht dem
Angler.
Sünde 7: Alleingang statt Kooperation
Do what you can do best — outsource the rest
Grosse
Unternehmen haben vielfach das Selbstbewusstsein eingeimpft, alle vom
Kunden gefragten Dienstleistungen selber erbringen zu können. Doch die
Digitalisierung hat dazu geführt, dass Kunden mit nur einem einzigen
Klick bei der Konkurrenz sind und andere, bessere, günstigere Angebote
finden. Doppelt wichtig darum, sich auf das Kerngeschäft zu fokussieren.
Was können wir besser, als alle anderen?
Es
gibt wenig gute Gründe, als Medienunternehmen auch noch alle
Infrastuktur-Probleme selber zu lösen. So manches Startup hat bitter
bereut, teure Programmierer an die Entwicklung eines eigenen
Content-Management-Systems zu setzen, statt eine fertige Drittlösung zu
kaufen und sofort mit dem journalistischen Kerngeschäft anzufangen.
Neben
dem Outsourcing werden auch Kooperationen immer wichtiger. Wenn zwei
Unternehmen das gleiche Problem haben, kommt man zusammen schneller und
günstiger zur Lösung — und kann dabei erst noch gegenseitig von den
gemachten Erfahrungen und Daten profitieren. Geben und nehmen ist die
Devise. Um alles alleine schaffen zu können, ist das Marktumfeld zu rau.
Sünde 8: Alles wollen
Fokus bedeutet Verzicht. Weniger ist mehr.
Grosse
Reportagen, ein neues Magazin, Newsletter, Audio-Podcasts, ein Chatbot,
eine Kochshow, eine Reisesendung, Instagram, Snapchat und eine
VR-Serie. Die Möglichkeiten auf dem digitalen Spielplatz sind
unbegrenzt. Und da am Horizont immer neue Services und Plattformen dazu
kommen, welche locken, mit journalistischen Inhalten bespielt zu werden,
wird die To-Do-List auf der Redaktion immer länger. Notabene bei immer
weniger Personal. Das geht auf Dauer nicht auf.
Wer
also Neues ausprobieren will — und das ist absolut richtig und
wichtig — muss gleichzeitig bereit sein, alte Zöpfe dort abzuschneiden,
wo sie nicht für den Unternehmenserfolg entscheidend sind.
Die
Losung “Weniger ist mehr” klingt verbraucht, und kommt dennoch nicht
aus der Mode. Weniger bedeutet Fokus. Fokus auf das Allerwichtigste.
Fokus heisst, volle Konzentration, Herzblut und Zeit für das
Wesentliche. Für die Strategie-Diskussion wie auch für den
redaktionellen Alltag empfielt sich die Frage: “Was lassen wir weg?”
Sünde 9: Die interne Kommunikation vergessen
Kommunikation ist unser Geschäft, das haben wir im Griff
Da
Medien von Natur aus Informationen verbreiten, unterliegen sie der
trügerischen Annahme, sie hätten auch im eigenen Haus die Kommunikation
automatisch im Griff. Doch gerade in Medienhäusern zeigt sich immer
wieder, wie sträflich der adäquate Informationsfluss nach innen
vernachlässigt wird. Dass Mitarbeiter über die grossen Entscheidungen
vor allen anderen externen Stakeholdern informiert werden wollen, ist
klar. Genauso wertvoll ist es aber, Teams in die strategischen
Fragestellungen miteinzubeziehen, sie proaktiv über Probleme zu
unterrichten und um ihre Mithilfe zu bitten. Mündige, gut informierte
Mitarbeiter leisten mehr und können durch ihr Handeln gezielt zum Erfolg
beitragen. Motivation fängt beim persönlichen Gespräch an, beim
Vertrauen, dem Übertragen von Verantwortung und nachweislich nicht beim Lohn.
Sünde 10: Hierarchie statt Empowerment
Mein Chef hat gesagt…
Manager
mögen Organigramme, weil darin klar wird, wer wofür zuständig ist, und
wer wem die Aufträge gibt. Aber diese hierarchischen Strukturen kommen
durch die Digitalisierung ans Ende ihres Lebenszyklus. Es entstehen neue
Organisationsformen, mitunter revolutionäre wie Holacracy. Ein System, welches auf ein hohes Mass an Selbstorganisation der Mitarbeiter und Teams setzt.
So
weit braucht man als Medienhaus gar nicht zu gehen. Als erster Schritt
empfiehlt es sich, dedizierte Teams für spezifische Produkte/Aufgaben
aufzubauen. Und zwar Teams, welche Produkte von A-Z verantworten; von
der Entwicklung über die Distribution bis zum Support. Konkret: Bilden
Sie ein Team aus Designer, Programmierer, Journalist, Datenspezialist
und Marketing/Vertrieb und geben sie ihnen eine klare Mission. Solche
Teams identifizieren sich deutlich stärker mit ihrem Produkt und den
Zielgruppen.
Agile
Organisationskulturen sind geprägt von Transparenz, Dialog, einer
Haltung des Vertrauens, sowie engmaschigen Feedbackmechanismen. Kein
System, welches von heute auf morgen implementiert ist. Aber eine Reise,
die sich lohnt — nicht nur für Technologie-Abteilungen, sondern auch
für Redaktionen, ja gar ganze Medienunternehmen.
Sünde 11: Inspiration ohne Regelwerk
Talk but no walk
Vorträge
halten, Reden schwingen, Botschaften verkünden. Alles wichtig und
richtig. Nur, damit allein ist es nicht getan. Um eine neue Strategie
umzusetzen reichen Worte allein nicht. Zwar findet im Kopf in kleinen
Schritten ein Umdenken statt, aber nur wer die Notwendigkeit für das
Neue versteht, handelt noch lange nicht in ihrem Sinn.
Es
braucht konkrete Massnahmen, welche die Arbeitsweise im Alltag
verändert. Mitunter müssen die konkreten Arbeitsabläufe vorgegeben und
kontrolliert werden. Kein Medienunternehmen hat die Zeit zu warten, bis
alle Mitarbeiter ausreichend Lust verspüren, die Strategie mitzutragen
und entsprechend zu handeln.
So
hilft bei Social Media zum Beispiel eine verbindliche Content-Planung,
welche vorgibt, wie oft auf welchem Kanal Inhalte publiziert werden. Ein
solches Mengengerüst schafft einerseits Planungssicherheit für die
zuständige Redaktion (Was machen wir am Sonntag bei Instagram, wenn das
Wetter verrückt spielt?) und andererseits Präsenz bei den Leserinnen und
Nutzern.
Sünde 12: Kreativität voraussetzen
Macht mal was Kreatives. Ihr wisst schon, so was Virales.
Schön,
wenn es so einfach wäre. Aber Kreativität, welche sich im
Medien-Dschungel von all dem Lärm abhebt, ist nichts, was mal eben kurz
bei der Redaktionssitzung geplant und husch-husch umgesetzt werden kann.
(Ein Hoch auf die Ausnahmen). Kreativität braucht Raum, eine etwas
längere Leine, eine Kultur, in der Risiko gefeiert statt abgestraft
wird. Und es braucht Typen (männlich wie weiblich zu verstehen). Typen,
die mit ihrer Meinung anecken und auch mal gegen den Mainstream
schwimmen. Kreativität ist keine Eigenschaft, die wir alle mit der
Muttermilch mitbekommen haben. Wer Kreativität im Alltag will, muss
darum beim Recruiting beginnen.
Jedes
erfolgreiche Unternehmen hat Mitarbeiter, die immer wieder extra Meilen
gehen, die mit grosser Leidenschaft für Exzellenz kämpfen, die
ungefragt neue Ideen einbringen und vor dem Einschlafen noch einem
unzufriedenen Kunden auf Twitter antworten. Diese Mitarbeiter sind
schwer zu finden und nur zu halten, wenn der Handlungsspielraum, die
Gestaltungsmöglichkeiten und die menschliche Wertschätzung stimmt.
Danke fürs Lesen und fürs Teilen.
Martin Oswald
Martin Oswald