Mich interessierte nicht die psychoanalytische Seite der Geschichte, sondern die technischen Tricks, die heute phantastische Traumwelten mit Computern hervorragend realisiert werden können:
Wie alles begann
Eine schöne junge Mutter lässt schweren Herzens ihr Baby in einem Korb vor der Tür eines Londoner Waisenhauses zurück. Die einzigen Gaben sind ein Abschiedskuss, ein kurzer Brief und eine Kette mit einem kleinen Anhänger in Form einer Panflöte. So beginnt die vom Briten Wright neu und zeitgemäß adaptierte Story rund um die Figur des Peter Pan, die vom schottischen Schriftsteller James M. Barrie erdacht wurde.Begehrtes Drehbuch von Hollywoods Blacklist
Peter, gespielt von Newcomer Levi Miller, und seine Freunde werden von den Piraten um Captain Blackbeard, dargestellt von Hugh Jackman, aus dem tristen Waisenhaus nach Neverland entführt. Erst kurz zuvor hat Peter einen Brief seiner Mutter entdeckt, in dem es heißt: „Wir werden uns wiedersehen, in dieser Welt - oder einer anderen!“ Die Reise im fliegenden Piratenschiff endet für die Kinder in Blackbeards Mine, wo sie für den Oberschurken nach „Pixum“ graben müssen, dem raren Elfenstaub. Dabei lernt der Bub den von Garrett Hedlund verkörperten James Hook kennen, der ihn bei der Suche nach seiner Mutter und dem Kampf gegen Blackbeard unterstützt.
Warner Bros Entertainment
Rasanter Start mit Rockstar-Ambitionen
Gleich zu Beginn legt Jackman als gefürchtetes Piratenoberhaupt einen regelrechten Rockstar-Auftritt hin. Gemeinsam mit Piraten und Gefangenen schmettert er eine Version von Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ und „Blitzkrieg Bop“ von den Ramones durch die düstere Mine. Es kann aber Entwarnung gegeben werden, denn es bleibt bei diesem gesanglichen Intermezzo, das ein wenig deplatziert wirkt.Jackman, der den internationalen Durchbruch seiner Mitwirkung am Musical „Oklahoma!“ verdankt, ist spätestens seit seiner Rolle des Jean Valjean in „Les Miserables“ von 2012 auch dem breiten Publikum als stimmgewaltig bekannt. Und seine beinahe bipolar angelegte Version von Blackbeard macht dem Schauspieler sichtlich Spaß.
Kuckucksei in bunter Schale
Beim ersten Treffen zeigte Wright Jackman eine Fotomontage des Körpers von König Ludwig XIV. mit dem Konterfei des Schauspielers samt Marie-Antoinette-Perücke. Jackmans Reaktion darauf: „I´m in!“ Die britische Kostümbildnerin Jacqueline Durran, die 2013 für Wrights „Anna Karenina“ einen Oscar erhielt, kleidete Hedlund alias Hook als eine Art Indiana Jones mit John-Ford-Filmfigur-Anleihen. Rooney Mara machte sie als Prinzessin Tiger Lily hingegen zu einer poppig-flippigen Figur mit Rock über Hose, sehenswertem Kopfschmuck und Feder-Epauletten. Überhaupt wurde im Film auf allen Ebenen stark gemixt, mit unterschiedlich viel Erfolg.
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Als Feind noch Freund war
Hooks Herkunft und Vorgeschichte wiederum bleiben im Film nahezu unkommentiert - diesen blinden Fleck könnte eine Fortsetzung tilgen. Barrie beschrieb seinen Hook als einen stilsicheren „Grandseigneur“, der, selbst wenn er jemanden aufschlitzte, das mit Stil tat. Barrie behauptete später, die Figur habe das englische Eliteinternat Eton besucht. Wrights Hook hingegen ist draufgängerisch angelegt, von Stil keine Spur. Die teils holprigen Flirtversuche mit Tiger Lily erinnern ebenso wie seine Faszination für eine dreifach geklonte Meerjungfrau (gespielt von Cara Delevingne) stark an Indiana Jones in seinen besten Zeiten.Hook sieht in Peter Pan seine Fahrkarte in die reale Welt und hilft ihm wenig ehrenhaft aus Kalkül. Warum er in die alte Heimat zurückwill, scheint er jedoch nicht mehr zu wissen, denn in Neverland vergisst man schneller als anderswo, heißt es im Film. Die Befürchtung liegt nahe, dass es dem Publikum ergeht wie Barries Buchhelden Peter Pan, der am Ende weder Erinnerungen an Hook noch an die ihm treu ergebene Tinker Bell hat. Vergessen kann eine Gnade sein.
Und das ist schade, denn Barries Vorlage hätte sich mehr verdient. Die Geschichte über den fliegenden Waisenbuben hat bereits unzählige Adaptierungen hervorgebracht. 1924 machte Regisseur Herbert Brenon die Schauspielerin Betty Bronson in der Erstverfilmung zum Star. Die bekannteste Zeichentrickfilmversion lieferte Disney 1953. Sogar Pans Erzfeind „Hook“ gönnte man 1991 mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle eine eigene Filmgeschichte. 2004 wurde in „Wenn Träume fliegen lernen“ die Entstehungsgeschichte des Klassikers fantasievoll mit einigen unwahren, aber wirksameren Details angereichert erzählt.
1.000 und eine Anleihe
Warum also eine neuerliche Adaption? Die eigentlichen Adressaten im Peter-Pan-Alter werden sich diese Frage vielleicht nicht stellen, denn die Story um Piraten, fliegende Schiffe und kindliche Identifikationsfigur ist bildgewaltig, bunt und wild. Der Film unterschätzt jedoch sein Publikum, denn die pseudo-kindgerechten darstellerischen Übertreibungen sind so nervtötend wie unnötig. Der als familientaugliches Fantasyabenteuer angekündigte Film kann cinephile Erwachsene zumindest abendfüllend beschäftigen, indem er sie zum gedanklichen Mitzählen der Anleihen bis hin zu den nahezu klagbaren Plagiaten ermuntert.
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Die Verkaufszahlen stets im Blick
Einige Elemente des 1904 in London uraufgeführten Originalschauspiels und später erschienenen Buches sind stärker und wilder als die braven Adaptionen. Denn dass Peter Pan Mütter für überschätzte Kreaturen hält oder die nervenden und wie Bierkutscher fluchenden Elfen verprügelt, lässt sich schlecht mit dem forcierten Bild des vorwitzigen Naturkindes vereinbaren. So schlecht, dass sich der deutsche Dressler Verlag nicht traute, die Elfenprügel-Szene richtig zu übersetzen.Ob Wright samt Cast und Crew im fliegenden Piratenschiff den Publikumsreaktionen wird ausweichen können, bleibt abzuwarten. Denn der Film kann eine Optimierung der Handlung - wobei man wohl stets die Kinokassen im Blick hatte - schwer abstreiten. Das knapp zweistündige Spektakel wird seine Fans finden. So mancher kritische Geist hingegen wird vorzeitig nach Hause gehen und den literarischen Vorläufer zur Hand nehmen.