So wurden Kinder zu Narzisten und Egomanen
Nach Michael Winterhoff, Jugendspsychiater, tun die Eltern mit Ihrer aufopfernden Liebe ihren Kindern keinen Gefallen. Bereits mit seinem letzten Buch "Warum werden Kinder zu Tyrannen" löste er eine heftige Erziehungsdebatte aus. Laut Winterhoff hat sich seither die Situation in den Augen des Autors und Arztes sogar weiter verschärft.
Die Kinder dominieren in zunehmendem Masse in der Gesellschaft. Sie werden nicht mehr zurechtgewiesen. Die Eltern sehen im Kind einen Teil der eigenen Persönlichkeit und können somit die Spannungen in der Beziehung nicht ertragen. Sie lesen ihren Kindern jeden Wunsch von den Augen ab und versuchen ihnen möglichst alle Wünsche zu erfüllen.
Wenn sich jedoch alles um ein Kind dreht, wird seine Entwicklung gebremst. Die emotionale und soziale Psyche wird nicht mehr ausgebildet. Die Kinder werden lebensuntüchtig und beziehungsunfähig. Soziale Bindungen sind aber notwendige Voraussetzung, damit Menschen miteinander klarkommen.
Wenn Eltern Kindern nicht mehr lernen, auf Wünsche verzichten zu können, kommt es zu einem Entwicklungsdefizit. Es fehlt die Frustrationstoleranz und das Unrechtsbewusstsein wird nicht entwickelt. Die Empathie fehlt. Kindern die auf nichts mehr verzichen können, sehen sich dauernd als Opfer. Alles muss sich um das Erfüllen Ihrer Bedürfnisse kümmern.
Die sogenannte Schulreife zeigte sich früher bei den Erstklässern, wenn sie vier Stunden lang auf einem Stuhl sitzen konnten und gelernt haben, Anforderungen zu akzeptieren und zuzuhören. Wer aber lustorientiert - im Moment lebt - meidet jegliche Anstrengung.
Wie kann ein Schulstoff erworben werden, wenn man nie gelernt hat, still zu sitzen und etwas zu tun, worauf man derzeit keine Lust hat?
Das Entwicklungsdefizit verunmöglicht dem Kind, die Intelligenz auszuschöpfen.
Die derzeitige imbefriedigende Situation müsste ernst genommen werden. Nach Winterhoff gab es 1995 pro Klasse zwei auffällige Schüler. Heute ist es umgekehrt. Es sind zwei die unauffällig sind. Das ist für ihn besorgniserregend.
Was hat sich in den letzten Jahren verändert?
Winterhoff erwähnt die gesellschaftlichen Veränderungen und den technischen Fortschritt. Der Computer veränderte sehr viel. Auch die Erwachsenen sind derzeit meist überfordert. Viele wissen nicht mehr was sie eigentlich im Leben wollen.
Weil wir nicht mehr in der Lage sind, Freude und Zufriedenheit zu verspüren, wird stellvertretend die Freude der Kinder zur eigenen Zufriedenheit gemacht. Erziehende denken und fühlen durch das Kind.
Eltern wollen ihren Kindern vermeintlich Gutes tun, indem sie sich ständig um deren Bedürfnisse kümmern.
Lehrer, Eltern, Lehrer und Grosseltern wollen unbedingt von den Kindern geliebt werden. Dies führt zu einer Machtumkehr: Der Erwachsene ist bedürftig und braucht das Kind, um dessen Bedürfnis zu stillen.
Was wäre wichtig?
Erwachsene müssten in sich ruhen. Das überträgt sich aufs Kind. Doch dies ist heute selten der Fall. Die meisten Erwachsenen sind dauergestresst.
Ferner dürfen wir Selbständigkeit und Selbstbestimmung nicht verwechseln. Wir arbeiten zwar selbständig, sind aber immer wieder fremdbestimmt (durch die Familie und den Beruf)
Wenn ein Kind nicht lernt, dass es auch fremdbestimmt ist, dass es sich auf eine Situation oder ein Gegenüber einstellen und anpassen muss, wird es im Leben mit anderen Menschen nicht klarkommen. In Oesterreich soll es in Kindergärten allen Ernstes Kindern möglich sein, dass sie jederzeit individuell das Trinken und Essen beziehen können. Dies im Glauben, dies fördere die Individualität, weil jeder Mensch zu einem anderen Zeitpunkt Hunger oder Durst habe. Eigentlich ist diese Einstellung völlig absurd.
Autorität und Hierarchie wurden ausgeblendet
Die Negierung jeglicher Autorität oder Hierarchie basiert auf der irrigen Vorstellung, dass man einem Kind auf Augenhöhe nur alles genug lang erklären muss, damit es arbeitet. Entwicklungspsychologisch kann das nicht funktionieren, weil man so dem Kind Erwachseneneigenschaften abverlangt.
Die Auswirkungen dieser Haltung sind verheerend. Es gibt bereits viele Firmen, die finden für ihre Ausbildung kaum noch Jugendliche, weil diese zu hause und in der Schule nie gelernt haben, auf die Zähne zu beissen. Der Umgang mit Autorität oder Kritik wirft sie sofort aus der Bahn.
Wenn wir nicht sofort Gegensteuer geben, muss die Gesellschaft später die Zeche bezahlen.
Was tun?
1. Die Symbiosebeziehung lösen.
2. Kinder zur Ruhe kommen lassen. Ein paar Stunden allein arbeiten lassen - ohne Ablenkung - ohne Handy.
3. Das Kind muss lernen, dass es einen Unterschied gibt zwischen Menschen und Gegenständen.
6. Kinder müssen lernen, längere Zeit sich auf eine Tätigkeit zu konzentrieren.
Der Mensch reagiert nämlich nicht auf Knopfdruck.
Quelle: M. Winterhoff: SOS Kinderseele, Bertelsmann, München 2013
Samstag, 7. Dezember 2013
Zur Einstimmung schon heute eine Weihnachtsgeschichte
Aus „Als ich ein kleiner Junge war“:
Dreierkonferenz unterm Christbaum
Nur einmal in jedem Jahr hätte ich sehnlich gewünscht, Geschwister zu besitzen: am Heiligabend! Am ersten Feiertag hätten sie ja gut und gerne wieder fortfliegen können, meinetwegen erst nach dem Gänsebraten mit den rohen Klößen, dem Rotkraut und dem Selleriesalat. Ich hätte sogar auf meine eigene Portion verzichtet und stattdessen Gänseklein gegessen, wenn ich nur am 24. Dezember abends nicht allein gewesen wäre! Die Hälfte der Geschenke hätten sie haben können und es waren wahrhaftig herrliche Geschenke! Und warum wollte ich gerade an diesem Abend, am schönsten Abend eines Kinderjahres, nicht allein und nicht das einzige Kind sein? Ich hatte Angst. Ich fürchtete mich vor der Bescherung! Ich hatte Furcht davor und durfte sie nicht zeigen.
Es ist kein Wunder, dass ihr das nicht gleich versteht. Ich habe mir lange überlegt, ob ich darüber sprechen solle oder nicht. Ich will darüber sprechen!
Also muss ich es euch erklären. Meine Eltern waren, aus Liebe zu mir, aufeinander eifersüchtig. ( … ) Wochenlang, halbe Nächte hindurch, hatte mein Vater im Keller gesessen und zum Beispiel einen wundervollen Pferdestall gebaut. Er hatte geschnitzt und genagelt, geleimt und gemalt, Schriften gepinselt, winziges Zaumzeug zugeschnitten und genäht, die Pferdemähnen mit Bändern durchflochten, die Raufen mit Heu gefüllt, und immer noch war ihm, beim Blaken der Petroleumlampe, etwas eingefallen, noch ein Scharnier, noch ein Beschlag, noch ein Haken, noch ein Stallbesen, noch eine Haferkiste, bis er endlich zufrieden schmunzelte und wusste: »Das macht mir keiner nach!« ( … )
Es waren Geschenke, bei deren Anblick sogar Prinzen die Hände überm Kopf zusammengeschlagen hätten, aber Prinzen hätte mein Vater sie nicht geschenkt. Wochenlang, halbe Tage hindurch, hatte meine Mutter die Stadt durchstreift und die Geschäfte durchwühlt. Sie kaufte jedes Jahr Geschenke, bis sich deren Versteck, die Kommode, krumm bog. Sie kaufte Rollschuhe, Ankersteinbaukästen, Buntstifte, Farbtuben, Malbücher, Hanteln und Keulen für den Turnverein, einen Faustball für den Hof, Schlittschuhe, musikalische Wunderkreisel, Wanderstiefel, einen Norwegerschlitten, ein Kästchen mit Präzisionszirkeln auf blauem Samt, einen Kaufmannsladen, einen Zauberkasten, Kaleidoskope, Zinnsoldaten, eine kleine Druckerei mit Setzbuchstaben und, von Paul Schurig und den Empfehlungen des Sächsischen Lehrervereins angeleitet, viele, viele gute Kinderbücher. ( … )
Es war ein Konkurrenzkampf aus Liebe zu mir und es war ein verbissener Kampf. Es war ein Drama mit drei Personen und der letzte Akt fand, alljährlich, am Heiligabend statt. Die Hauptrolle spielte ein kleiner Junge. Von seinem Talent aus dem Stegreif hing es ab, ob das Stück eine Komödie oder ein. Trauerspiel wurde. Noch heute klopft mir, wenn ich daran denke, das Herz bis in den Hals. ( … )
Ich stand also am Küchenfenster und blickte in die Fenster gegenüber. Hier und dort zündete man schon die Kerzen an. Der Schnee auf der Straße glänzte im Laternenlicht. Weihnachtslieder erklangen. Im Ofen prasselte das Feuer, aber ich fror. Es duftete nach Rosinenstollen, Vanillezucker und Zitronat. Doch mir war elend zumute. ( … ) Und dann hörte ich meine Mutter rufen: .Jetzt kannst du kommen! Ich ergriff die hübsch eingewickelten Geschenke für die beiden und trat in den Flur. Die Zimmertür stand offen. Der Christbaum strahlte. Vater und Mutter hatten sich links und rechts vom Tisch postiert, jeder neben seine Gaben, als sei das Zimmer samt dem Fest halbiert. „Oh“, sagte ich, „wie schön!“, und meinte beide Hälften. Ich hielt mich noch in der Nähe der Tür, sodass mein Versuch, glücklich zu lächeln, unmissverständlich beiden galt.
Der Papa, mit der erloschenen Zigarre im Munde, beschmunzelte den firnisblanken Pferdestall. Die Mama blickte triumphierend auf das Gabengebirge zu ihrer Rechten. Wir lächelten
zu dritt und überlächelten unsre dreifache Unruhe. Doch ich konnte nicht an der Tür stehen bleiben!
Ach, wenn ich allein gewesen wäre, allein mit den Geschenken und dem himmlischen Gefühl, doppelt und aus zweifacher Liebe beschenkt zu werden! Wie selig wär ich gewesen und was für ein glückliches Kind! Doch ich musste meine Rolle spielen, damit das Weihnachtsstück gut ausgehe. Ich war ein Diplomat, erwachsener als meine Eltern, und hatte dafür Sorge
zu tragen, dass unsre feierliche Dreierkonferenz unterm Christbaum ohne Missklang verlief. ( … )
Ich stand am Tisch und freute mich im Pendelverkehr. Ich freute mich rechts, zur Freude meiner Mutter. Ich freute mich an der linken Tischhälfte über den Pferdestall im Allgemeinen. Dann freute ich mich wieder rechts, diesmal über den Rodelschlitten, und dann wieder links, besonders über das Lederzeug. Und noch einmal rechts, und noch einmal links, und nirgends zu lange, und nirgends zu flüchtig. Ich freute mich ehrlich und musste meine Freude zerlegen und zerlügen. Ich gab beiden je einen Kuss auf die Backe. ( … )
Nebenan; bei Grüttners, sangen sie „0 du fröhliche, 0 du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!“
Mein Vater holte ein Portemonnaie aus der Tasche, das er im Keller zugeschnitten und genäht hatte, hielt es meiner Mutter hin und sagte: „Das hätt ich ja beinahe vergessen!“ Sie zeigte auf ihre Tischhälfte, wo für ihn Socken, warme lange Unterhosen und ein Schlips lagen. Manchmal fiel ihnen, erst wenn wir bei Würstchen und Kartoffelsalat saßen, ein, dass sie vergessen hatten, einander ihre Geschenke zu geben. Und meine Mutter meinte: „Das hat ja Zeit bis nach dem Essen.“
Welcher Drestner Schriftsteller könnte diese Geschichte geschrieben haben?